18. Mai 2020
| Zeitschrift AufbruchDer kritische Denker
Marc Chesney, Professor für Quantitative Finance an der Universität Zürich, stellt die aktuellen Wirtschafts- und Finanzkonzepte zutiefst in Frage
Von Stephanie Weiss
Alles begann in Paris. «Als junger Student dachte ich, dass ich mit Mathematik das Finanzsystem besser verstehen kann. Nach einem Master in Mathematik und einem in Ökonometrie studierte ich in Genf Ökonomie», sagt der Finanzprofessor, Marc Chesney. Erst viel später habe er verstanden, dass man in der Ökonomie interdisziplinär denken müsse.
«Es wäre wichtig, den Austausch auch mit Biologen, Philosophen, Juristen und Soziologen zu pflegen. Als ich in Genf Assistent war, lehrte der Soziologieprofessor Jean Ziegler an derselben Fakultät. Es war ideal, auch andere und kritische Meinungen zu hören.» Dass man eine Trennung vorgenommen habe, sei schade, denn Wirtschaft sei eine soziale Wissenschaft. Um diesen interdisziplinären Austausch aktiv zu fördern co-gründete Chesney Anfang des Jahreds das Kompetenzzentrums für nachhaltige Finanzwirtschaft, CCSF an der Universität Zürich und amtiert als Direktor.
Der umtriebige Finanzprofessor wird nicht müde, auf die Gefahren hinzuweisen, welche von der Grösse und Komplexität des Finanzmarkts ausgehen. «Nach der Finanzkrise von 2007/2008 wurde mir bewusst, dass das so nicht mehr weitergehen kann. Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem, was im Finanzwesen und in der Ökonomie unterrichtet wird und der Realität. Viele Konzepte und Annahmen in der Finanztheorie sind einfach nicht korrekt.» Deshalb sei kritisches Denken angesagt und das sehe er als seine Pflicht. «Weil ich vom Steuerzahler bezahlt werde, kann und will ich diese akademische Freiheit nutzen.» Diesen Weg des kritischen Denkens verfolgt er bis heute.
Die Mikrosteuer als Anfang
Eine Frage, die den 60-jährigen Schweizer und Franzosen umtreibt ist: kann eine Wirtschaft immer weiter wachsen? Chesney skizziert das Dreiphasenmodell, welches für alle Lebewesen und auch für die Gesellschaft gilt: nach einer anfänglichen Entwicklungsphase folgt die Stabilisierung und schliesslich der Niedergang. «Aktuell befinden wir uns in der dritten Phase, denn alle Signale stehen auf Rot: die Umwelt leidet, es gibt Armut, Ungleichheit und Epidemien. Man muss nur hinschauen, um zu verstehen, dass es einfach nicht mehr aufgeht.» Die Pandemie sei als Signal der Natur zu verstehen. «Viele Ökonomen tun so, als ob der durch die Wirtschaft erzeugte Verlust an Biodiversität und Abholzung sowie die Globalisierung keinen Zusammenhang mit der Corona-Krise hätten. Das zeugt von einer intellektuellen Blindheit.» Es sei doch paradox, dass jetzt, wo die Wirtschaft gestoppt wurde, die Luftqualität besser sei. Um einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, müsse man «out of the box» denken.
Professor Chesney ist einer der Hauptförderer der Mikrosteuer, für die im März eine Initiative lanciert wurde. Diese Minimalsteuer von rund 0.1% soll auf Mehrwertsteuerbefreite Transaktionen erhoben werden, also hauptsächlich auf den elektronischen Zahlungsverkehr. Im April reichten die Initianten den Vorschlag für einen dreimonatigen Versuch mit einer Corona- Mikrosteuer ein. «Wir haben berechnet, dass daraus zwischen 10 und 20 Mia. Franken generiert würden. Dies wäre eine grosse Hilfe zur Finanzierung der Wirtschaft, ohne weitere Schulden zu machen.» Darüber hinaus gelte es aber auch einige Prinzipien der Wirtschaft zu ändern. «Die Wirtschaft sollte im Dienst der Gesellschaft stehen und der Finanzsektor im Dienst der Wirtschaft – heute ist alles umgekehrt.» Weiter stört sich Chesney daran, dass sich das Finanzwesen nur auf Geldwerte fokussiere. «Wir sollten uns fragen, was die tatsächlichen Werte der Gesellschaft sind.» Fragt sich nur, wie dieser Paradigmenwechsel für das globalisierte Finanzsystem zu schaffen wäre. «Wenn die Schweiz beispielsweise die Mikrosteuer einführen würde, wäre das ein Signal. Wir sollten von der direkten Demokratie profitieren, indem wir kluge Ideen einbringen.» Dass wir in einer Zeit leben, in der grün gewählt wird und sogar am WEF über Nachhaltigkeit gesprochen wurde, könnte als Zeichen für ein Umdenken interpretiert werden. Chesney lacht.
«Das sind sehr schöne Worte, aber wichtiger sind die Taten und diese sehe ich noch nicht. Am WEF wurde viel über Nachhaltigkeit gesprochen, beim nächsten Mal werden sie über die Pandemie sprechen, aber am Ende des Tages wird es nicht viel bringen.» Die ganze Gesellschaft müsse diese Themen ernst nehmen, denn es gehe auch um künftige Generationen. «Wie können wir deren Interessen im Wirtschafts- und Finanzsystem berücksichtigen?» Auf solche Fragen sei unser System nicht ausgelegt.