22.04.2024
| InfosperberDas Debakel der Credit Suisse: Die Zurückhaltung der akademischen Welt
Red. / 22.04.2024 Professoren an Universitäten sollen die Interessen der Bevölkerung wahrnehmen und nicht im Interesse der Grossbanken arbeiten.
upg. Wenn es um das Debakel der Credit Suisse geht oder darum, wie man das Klumpenrisiko der UBS in den Griff bekommt, melden sich aus Universitäten vor allem Wirtschaftsprofessoren und Wirtschaftshistoriker. Die grosse Mehrheit der vielen Schweizer Finanzprofessoren glänzt durch Schweigen. Eine Ausnahme ist der Zürcher Professor für Finanzmathematik Marc Chesney, von dem folgender Gastbeitrag stammt.
Die Zurückhaltung der akademischen Welt
Ein Jahr nach dem Debakel der Credit Suisse bleibt ein Aspekt weiterhin im Dunkeln und wirft Fragen auf: die Zurückhaltung der akademischen Finanzwelt, die sich kaum öffentlich zu den Ursachen des Untergangs der zweitgrössten Schweizer Bank geäussert hat. Mit wenigen Ausnahmen herrschte Funkstille. Die universitären Bank- und Finanzexpertinnen und -experten hätten Stellung beziehen können und sollen – allein aus Respekt vor den Steuerzahlern, von denen sie grösstenteils finanziert werden.
In anderen wissenschaftlichen Disziplinen erstellen Wissenschaftler Analysen, die auf Fragen oder Sorgen der Öffentlichkeit eingehen. Bei einem Erdbeben äussern sich Seismologinnen und Seismologen. Während der Covid-Pandemie meldeten sich Epidemiologen, Immunologinnen und Virologen zu Wort. Die Klimakrise wird regelmässig von Umweltwissenschaftlerinnen und Umweltwissenschaftlern des Intergovernmental Panel on Climate Change IPCC dokumentiert.
Als aber die Credit Suisse nach einer langen Reihe von undurchsichtigen und zweifelhaften Geschäften unterging, glänzten die universitären Spezialisten vor allem durch ihre Zurückhaltung. Ihre Medienpräsenz blieb bedauerlicherweise begrenzt, obwohl sie die Debatten hätten bereichern können.
Am Mangel an Finanzprofessoren in der Schweiz kann es nicht liegen: Das Swiss Finance Institute (SFI) hat etwa 75 Mitglieder, darunter etwa ein Drittel Seniorprofessoren mit einem eigenen sogenannten SFI-Lehrstuhl. Dazu kommen noch die Professoren, die nicht Mitglied des SFI sind.
Woran liegt diese Zurückhaltung und dieser Mangel an objektiver Krisenanalyse? Grund könnte ein Interessenkonflikt sein, eine kognitive Vereinnahmung dieser akademischen Welt, die sich den Ansichten und Interessen grosser Finanzinstitutionen anpasst.
Verschiedene Vorstellungen von Universitäten
Das Konzept der Universität von Wilhelm von Humboldt (1767-1835) ist vom Geist der Aufklärung getragen und fordert einen wissenschaftlichen Ansatz, der unabhängig von wirtschaftlichen Interessen sein soll. Die Lehre soll den Studenten die fachlichen Kompetenzen und erforderlichen analytischen Fähigkeiten vermitteln, um kritisches Denken zu entwickeln. Das ist für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft wesentlich (Siehe: Umstrittenes Universitätssponsoring, M. Chesney und P. Ulrich, NZZ vom 22. Juli 2014).
In diesem Rahmen sollte der Wert und die Bedeutung von Universitätsprofessoren nicht nach ihrem Nutzen für den Finanzsektor beurteilt werden, sondern vielmehr nach ihrer wissenschaftlichen Fähigkeit, sich in die öffentliche Debatte einzubringen und für das Gemeinwohl zu arbeiten.
Entspricht die Zurückhaltung des Finanz-Lehrkörpers etwa eher einer unternehmerisch orientierten Universität, die vom Privatsektor finanziert wird, die ihre Studenten als Kunden ansieht, und die technisches Wissen am Fliessband reproduziert, um die wirtschaftliche Leistung zu fördern? Nicht wirklich, denn diese Universitäten sind nicht vom Privatsektor finanziert. Und von «Leistung» sprechen kann man nach dem Debakel der CS ebenfalls nicht.
Es handelt sich vielmehr um ein anderes Modell, das für die Unternehmen oder Stiftungen, die es fördern, viel kostengünstiger ist. Da der Privatsektor die Kosten für Bildung und Verwaltung von Universitäten längst nicht deckt, beschränkt sich seine Finanzierung, vorausgesetzt es gibt sie, auf Gehaltszulagen für bestimmte Professorinnen und Professoren, und dies auf wenig transparente Weise.
Doch auch diese beschränkten privaten Zuschüsse lenken die Ausrichtung von Bildung und Forschung potentiell in eine Richtung, die privaten Interessen dient. So entsteht das Risiko, dass der Name des Gönners auf Diplomen erscheint, deren Kosten vom Steuerzahler getragen werden. Die Universität hat finanzielle Anreize, sich nach den Vertretern der Finanzwelt zu richten und ihre Forschungen deren Agenda anzupassen. Kritisches Denken wird schwierig; es wird verdrängt von der Fähigkeit, technische Kompetenzen zu reproduzieren, die eigentlich aktualisiert werden sollten, da sie die ständigen Instabilitäten des Finanzsystems und dessen soziale Auswirkungen nicht wirklich einbeziehen.
Diesem Modell sind Interessenskonflikte inhärent. Und auch das Schweigen derjenigen, die von gewissen Grosszügigkeiten profitieren. Die Programmierung des Geistes, die sich daraus ergibt, ist mit der akademischen Freiheit unvereinbar. Daher sollte die Debatte über diese Fragen eröffnet und dafür gesorgt werden, dass kritische Analysen an der Universität ihren Platz haben, und dass störende Fragen nicht immer unter den Teppich gekehrt werden.
Die Unfähigkeit, ein immer wahrscheinlicheres CS-Debakel kommen sehen zu wollen und die Öffentlichkeit davor zu warnen, wirft Probleme auf. Auch in Zukunft ist diese Unfähigkeit gefährlich, da sie bedeutet, dass die akademische Finanzwelt nicht in der Lage zu sein scheint, auf zukünftige Debakel oder Krisen aufmerksam zu machen. Noch weniger ist sie fähig, potenzielle Konsequenzen solcher Ereignisse zu erkennen und adäquate Massnahmen rechtzeitig vorzuschlagen.
Für die normalen Bürgerinnen und Bürger ist diese Feststellung beunruhigend.
Absichtlich blind…
Spätestens nach der Finanzkrise 2008, nach der Schuldenkrise 2011 und nach dem CS-Debakel, das 2023 eskalierte, sollte man doch die Lehren daraus ziehen. Es geht um die Verantwortung gegenüber dem Steuerzahler und dem Bürger.
Doch noch heute geht die Finanzlehre von zu vielen falschen Postulaten und von unrealistischen Annahmen aus.
- Wie kann man noch heute lehren und/oder an das Dogma glauben, dass die Finanzmärkte im Prinzip effizient und perfekt seien?
- Wie kann man noch lehren, dass die grotesken Löhne und Boni den Grossbanken nützlich und gerechtfertigt sind, um wegen des internationalen Wettbewerbs die «besten» Manager anzulocken? Wer waren denn die «besten» Manager im Fall von Credit Suisse – diejenigen, die das Debakel und die Verluste vergrösserten und sich dank weiterer Schulden trotzdem Boni bezahlen liessen?
- Wie kann man heute noch behaupten, dass die komplexen Finanzprodukte, bekannt als Derivate, für Unternehmen nützlich seien, weil sie angeblich als Absicherungsprodukte dienen?
Auch in Bezug auf andere Fragen ist die akademische Welt befremdlich zurückhaltend und vielleicht sogar ängstlich:
- Warum sollte der Lehrkörper zu dem Volumen dieser Produkte – etwa 25-mal das BIP der Schweiz bei der CS im Jahr 2022 und heute etwa 40-mal dieses BIP bei der UBS – und zu den damit verbundenen Gefahren schweigen?
(Die SIX-Gruppe veröffentlicht für die Schweiz regelmässig Statistiken zum Thema Derivate: Deren Nominalwert erreiche 5000- bis 40’000-mal das Bruttoinlandprodukt des Landes!) - Warum werden die inhärenten Systemrisiken dieser riesigen toxischen Wetten nicht analysiert?
- Wieso werden die mit dem UBS-Kauf der CS assoziierten Unsicherheiten und ihre inhärente Bedrohung für die Schweiz nicht thematisiert? Weshalb werden ein möglicher zukünftiger Quasi-Bankrott der UBS – wie er ja schon 2008 stattfand – und seine Auswirkung für die Schweiz bezüglich Inflation, Armut und Arbeitslosigkeit nicht thematisiert?
- Warum ist es tabu, die Äusserungen der SNB und der Finma vom 15. März 2023 – vier Tage vor dem Sturz der CS, zu hinterfragen? Ich zitiere: «Die Credit Suisse erfüllt die an systemrelevante Banken gestellten Anforderungen an Kapital und Liquidität.» Auf welchen Daten basierten die Einschätzungen dieser zwei Institutionen? Wer ist schlussendlich für diese Katastrophe verantwortlich?
- Warum wird das weltweite Greenwashing der Grossbanken und deren Finanzierung von Öl-, Gas- und sogar Kohle-Konzernen überhaupt nicht unter die Lupe genommen?
- Wieso werden der Zweck von Hedge-Fonds, die Superreiche noch reicher machen, und die daraus folgenden krassen sozialen Ungleichheiten sowie der Zweck des Schattenbanksektors im Allgemeinen nicht kritisch hinterfragt?
…oder sogar gefährlich verblendet
Die Liste der Fragen ist zwar lang, aber trotzdem nicht vollständig. Ihre Themen einfach zu ignorieren und «business as usual» zu betreiben, sollte für die akademische Welt im Finanzwesen keine Option sein. Es sei denn, das Debakel der CS und anderer Grossbanken stellt auch die Bankrotterklärung dieser Branche dar.
Ein wesentlicher Anspruch der Wissenschaft besteht darin, sich immer wieder in Frage zu stellen. Wenn sie aber unfähig ist, Konzepte zu hinterfragen, selbst wenn sich diese als unpassend, falsch oder sogar gefährlich erwiesen, lässt dies auf eine absichtliche Blindheit oder sogar auf eine gefährliche Verblendung schliessen. Das ist mit einer wissenschaftlichen Vorgehensweise unvereinbar.
Dieser Beitrag ist eine angepasste Version von Chesneys Artikel in «Le Temps» vom 19. März.