25. Januar 2022
| TagesanzeigerDas Problem ist die Finanz-Casino-Mentalität
Angesichts weiterer teurer Rechtsfälle fordert Bankenexperte Marc Chesney mehr Transparenz bei der Credit Suisse und einen Ausstieg aus dem Investmentbanking.
Herr Chesney, schon wieder gibt es schlechte Nachrichten von der Credit Suisse. Was sagen Sie dazu?
Überraschung, Überraschung (lacht)! Es reiht sich ein Skandal an den anderen, man fragt sich nur noch: Wann kommt der nächste? Das Problem ist die Finanz-Casino-Mentalität, die grosse Risiken erzeugt und sich seit rund 40 Jahren in den Grossbanken verbreitet hat.
Warum kommt es gerade jetzt zu den hohen Rückstellungen? Hat das mit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Axel Lehmann zu tun? Oder klopfte die Finma der Bank auf die Finger?
Das wissen wir noch nicht. Die Bank ist trotz vieler Skandale eine Blackbox, es fehlt die Transparenz. Aber bezahlen müssen die Verluste die Kundinnen, die Angestellten und schliesslich, wenn die Lage ernst wird, die Steuerzahler.
Sehen Sie die Credit Suisse wegen des tiefen Aktienkurses nun als Übernahmeobjekt?
Es stellt sich schon die Frage, warum keine Übernahmeangebote vorliegen. Die CS ist sehr günstig geworden, und es gibt viele Unternehmen, die riesige Gewinne gemacht haben und Projekte im Finanzsektor vorantreiben – Firmen wie Google oder Facebook. Aber anscheinend will bis jetzt niemand die Katze im Sack kaufen. Sie fürchten wahrscheinlich, dass die CS noch weitere Skandale in der Schublade haben könnte.
Wäre eine Fusion von UBS und Credit Suisse aus Ihrer Sicht eine Lösung?
Es muss in die andere Richtung gehen. Es braucht kleine Banken, deren Leistungsträger und -trägerinnen die Verantwortung spüren. Eine Fusion würde alles noch schlimmer machen.
Werden die anhaltenden Negativschlagzeilen zur Flucht der Kunden führen?
Diese Negativschlagzeilen helfen sicher nicht, um Kunden zu behalten! Kundinnen und Kunden zahlen immer höhere Gebühren, mit denen sie die üppigen Boni finanzieren. Man kann sich fragen, was eigentlich die Leistung des Managements ist.
Wäre es dann nicht besser, die CS würde sich komplett vom Investmentbanking verabschieden und sich auf das erfolgreiche Private Banking konzentrieren?
Investmentbanken wie Goldman Sachs sind etablierter. Es wird schwer für die CS, hier im Wettbewerb zu bestehen. Als die CS vor rund 40 Jahren die First Boston gekauft hat und ins Investment Banking eingestiegen ist, wurde der Grundstein für die Casino-Mentalität gelegt. Wir wissen, was die Ergebnisse waren.
Zum grossen Kurszerfall kam es bereits am Montag, einen Tag vor der Gewinnwarnung. Könnte es zu einem Leck gekommen sein?
Der frühe Kurssturz ist sicher ein Signal, aber kein Beweis. Die Finanzmarktaufsicht (Finma) sollte untersuchen, ob es im Vorfeld zu aussergewöhnlich vielen Verkauf-Orders für CS-Aktien gekommen ist.
Seit Thomas Gottstein angetreten ist, ist der Aktienkurs förmlich abgeschmiert. Ist er der Richtige, um die Bank zu führen?
Es geht weniger um Namen als um Mentalität. Es braucht vernünftige Leute, die zum Beispiel mit einer Million Franken Jahreslohn zufrieden sind, statt mit 10 oder 15. Damit kann man in der Schweiz gut leben.
Marc Chesney ist Finanzprofessor an der Uni Zürich. Der Mathematiker und Ökonom hat mehrere Bücher geschrieben – darunter «Die permanente Krise».
Simone Luchetta ist Wirtschaftsredaktorin bei Tamedia. Die studierte Germanistin schreibt hauptsächlich über Arbeit und seit vielen Jahren über Technologie und Cybersecurity. Sie hat zudem eine Weiterbildung in Datenjournalismus abgeschlossen.