23 Dezember 2016
| InfosperberDer Terror ist Resultat einer bankrotten Politik
Wer finanziert Terroristen? Wer liefert ihnen Waffen? Wer kauft ihnen Erdöl ab?
Red. Marc Chesney ist Professor der Finanzwissenschaften an der Universität Zürich. Er interessiert sich für die Finanzflüsse terroristischer Organisationen, kritisiert das dominierend utilitaristische Denken und Handeln unserer Gesellschaften sowie die Verlogenheit der Regierungen.
In seinem autobiographischen Roman «La Tregua» - auf Deutsch übersetzt «Der Waffenstillstand» - einem Werk, das zwischen Tragödie und Hoffnung oszilliert, schildert Primo Levi die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die russischen Truppen im Jahr 1944 und die Irrfahrt einer Gruppe italienischer Überlebender quer durch Zentraleuropa zurück nach Italien.
Die Wahl des Titels «Der Waffenstillstand» legt den Gedanken nahe, dass das Ende des Zweiten Weltkrieges in den Augen des Schriftstellers nur eine Pause gewesen sei zwischen zwei Formen der Barbarei, die eine durch die Nazis begangen, sowie eine andere, von ihm nicht näher bezeichnete. Diese Pause wäre um ein Haar von kurzer Dauer gewesen, da der europäische Kontinent als Folge des Kalten Krieges zum Schauplatz eines atomaren Konfliktes hätte werden können, und weil das Gespenst eines solchen Krieges weiterhin umhergeht.
Die Anschläge, die Europa, kürzlich auch Berlin, in den Jahren 2015 und 2016 getroffen haben, erlauben es eine weitere Form der Barbarei auszumachen, diejenige des islamistischen Terrors. Jetzt ist es soweit, dass der Terror im Herzen Europas wieder aufersteht, namentlich in Frankreich, Deutschland und Belgien. Kinder, Passanten, Touristen werden wahllos aus dem Leben gerissen, durch einen im Zickzack fahrenden Lastwagen, eine Maschinengewehrsalve, einen Messerstich oder die Bombe eines Selbstmordattentäters.
Der Bankrott einer Politik
Was tun die Verantwortlichen der betroffenen Länder? Sie wenden weiterhin Rezepte an, die bis jetzt nicht funktioniert haben. Reden ohne Substanz folgen aufeinander. Sie schaffen es nicht! Auch wenn die Attentate die Folge eines Versagens des Sicherheitsapparates sind, worauf die Medien oft verweisen, so sind sie doch vor allem dem Bankrott einer Politik zuzuschreiben.
François Hollande hat im Juli 2016 den Ausnahmezustand verlängert, eine Massnahme, die bis zu diesem Datum die Massaker nicht verhindern konnte. Ausserdem hat er sich einmal mehr zum Ziel gesetzt, die Terroristen in Syrien «in ihrem Schlupfwinkel» zu bombardieren. Sollte man ihn vielleicht daran erinnern, dass die Terroristen, die für die Attentate in Frankreich verantwortlich waren, zum Grossteil französische oder belgische Staatsbürger waren, und dass ihre Schlupfwinkel in den Banlieues von Paris, Brüssel oder Nizza zu finden sind?
Ausserdem wäre es angemessen, dass die Regierungen Deutschlands und Frankreichs erklären, warum sie Streitmächte oder logistische Unterstützung an verschiedene ausländische Kriegsschauplätze entsenden. Syrien, Irak und Libyen, Länder die vor der westlichen Intervention mit keinem Islamischen Staat auf ihrem Territorium konfrontiert waren, werden jetzt von blutigen Kriegen zerstört. Die USA und ihre Verbündeten haben die Rolle des pyromanen Feuerwehrmannes gespielt. Ihr «Krieg gegen den Terror», initiiert von George Bush im Jahr 2001, geht meist mit dem Versuch einher, sich Energiequellen im Ausland anzueignen und im Inland eine Politik zu verfolgen, die letztendlich zum Scheitern verurteilt ist.
Die Verlogenheit gewisser Regierungen
Die Untersuchung des Attentats vom 14. Juli 2016 in Nizza hat offengelegt, dass sich unter den Beziehungen des Mörders ein Jihadist aus Nizza befindet, welcher der Al-Nusra-Front, heute «Fatah Al-Cham», nahesteht. Das ist ein Ableger der Al-Kaida in Syrien, der noch bis vor kurzem Aleppo besetzt hielt. Soll man daran erinnern, dass Laurent Fabius, damals Aussenminister Frankreichs, laut «Le Monde» vom 13.12.2012, öffentlich erklärte, Al-Nusra mache in Syrien «einen guten Job», ohne dass es klar war, ob dies seine Meinung reflektiert oder diejenige der befreundeten arabischer Länder von Frankreich?
Es wäre an der Zeit, dass die politisch «Verantwortlichen» in Frankreich und Deutschland ihre Aussagen und auch ihre Strategie erklären, die darin besteht, Rebellengruppen zu unterstützen, die sie als gemässigt präsentieren, und mit Waffen zu beliefern, die zumeist in den Händen von Terroristen landen, und dies sowohl in Syrien als auch in Libyen oder Afghanistan. Es wäre auch höchste Zeit, Rechenschaft abzulegen über ihre Affinität zu den Monarchien am Persischen Golf, zu jenen, die den islamistischen Salafismus finanzieren und fördern, der mit der Demokratie absolut inkompatibel ist.
Gewichtige Fragen bleiben offen. Wie konnte eine Organisation wie Daesh (ISIS), vor einigen Jahren noch vollkommen unbekannt, in Syrien und im Irak so grosse Gebiete erobern und einen Islamischen Staat gründen? Wenn für Daesh die Förderung und der Verkauf von Erdöl eine wichtige Finanzierungsquelle ist, fragt man sich:
- Welche Staaten und Unternehmen kaufen das Öl?
- Über welche Kanäle fliesst es?
Eine Tagesproduktion von rund 40'000 Barrel im Jahr 2015 kann durch die Satelliten, welche die Region permanent überwachen, doch nicht unentdeckt bleiben!
- Woher kommen die Waffen für diesen selbsternannten Staat?
- Welche Banken sind involviert in die Zirkulation der Geldströme im Zusammenhang mit dieser terroristischen Organisation?
Wer hält Informationen darüber zurück und warum?
In Zeiten wie diesen, wo die Technologie es ermöglicht, solche Finanzströme zu identifizieren und zu analysieren, ist es erklärungsbedürftig, dass im Fall von Daesh und der Al-Nusra-Front nur unvollständige Informationen zur Verfügung stehen. So bleibt vieles im Ungewissen. Licht ins Dunkle zu bringen ist notwendig, um die Doppelbödigkeit im Verhalten gewisser politisch Verantwortlicher in vielen Ländern anzuprangern, insbesondere in Frankreich.
Aktive Bürger statt Pokémon Go
Derartige Verlogenheit aufzudecken ist wesentlich, genügt aber nicht, um dem Terrorismus ein Ende zu setzen. Eine entmenschlichte Welt von infantilisierten Konsumenten hat dem Fanatismus von Individuen, die am Tropf einer ausser Rand und Band geratenen Gewalt hängen, nichts entgegenzusetzen.
Im Sommer 2016 haben die Medien die Begeisterung für Pokémon Go weiter verbreitet. Millionen von Spielern in allen Metropolen beschäftigten sich damit, virtuelle Kreaturen zu suchen, während die Mörder imstande sind, in grossem Stil zu operieren. Dieses Phänomen illustriert die Unfähigkeit der heutigen Gesellschaft, einer Gesellschaft ohne wahre Werte ausser den finanziellen, fixiert auf das Artifizielle und auf wertlosen Kram, angemessen auf Bedrohungen wie jene des Terrorismus zu reagieren.
Herausgeforderte Gesellschaft
Eine Gesellschaft, die auf einer vulgären Spielart des Utilitarismus basiert, die ihre Kultur und ihre Identität vergessen hat, hat den Krieg gegen den Terrorismus von vornherein verloren, bevor sie ihn überhaupt geführt hat. Indem eine solche Gesellschaft auf Sicht fährt, ohne wirklichen Kompass, geleitet von Politikern ohne Format und ohne Überzeugung, läuft sie Gefahr, jeden Moment unterzugehen, und sie ist unfähig, das Abdriften gewisser Individuen in die blutige Gewalt zu korrigieren.
Eine Gesellschaft, die imstande wäre, sich den aktuellen Herausforderungen zu stellen, insbesondere den terroristischen, braucht aktive Bürger, die bereit sind ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Nur so können sie verhindern, dass sie die Leidtragenden einer kurzsichtigen Politik werden, welche den Interessen der grossen Mehrheit zuwiderläuft, sowie verhindern, dass sie Opfer werden von skrupellosen Individuen. Nur der Geist der Aufklärung vermag sich dem Obskurantismus wirklich entgegenzustellen und der Barbarei - in welchen Formen auch immer sie auftreten mag - ein Ende zu bereiten.