Kritische Analyse des Finanzsektors

20. August 2019

| Infosperber

Die Demokratie steht unter Druck des Finanzsektors

Eine starke Finanzlobby manipuliere Parlamentarier und schalte die Öffentlichkeit aus, erklärt Finanzprofessor Marc Chesney.

«Die Macht der Märkte» höhle die Demokratie aus, bilanziert Chesney in seinem stark überarbeiteten Buch «Die permanente Krise – Der Aufstieg der Finanzoligarchie und das Versagen der Demokratie»*. Er klärt gleich auf, wer «die Märkte» sind, von denen nicht nur in Börsensendungen, sondern auch in der Tagesschau häufig die Rede ist: Es sind «Investmentbanken und spekulative Fonds, welche ebendiese Märkte [allen voran die grossen Börsen in New York und Chicago] manipulieren oder es zumindest versuchen, um aus ihren Einsätzen Gewinn zu schlagen». Sie würden ein Wettcasino betreiben, wo finanzielle Transaktionen in immer höherer Frequenz als Mikrosekundenhandel abgewickelt werden.

Die Macht dieser «Märkte» widerspräche den Grundprinzipien der Demokratie: «Fortan sind es die elektronischen Finanzmärkte, welche die wirtschaftliche, finanzielle und soziale Ausrichtung der Länder bestimmen.» Sowohl linke wie auch rechte Politik müssten sich den Finanzmärkten unterordnen: «Es läuft auf eine Form von Diktatur hinaus», erklärt Marc Chesney. Deshalb gehe es heute «um die Wahl zwischen der Diktatur des Finanzsektors und einer Demokratie, in der die Bürgerinnen und Bürger ihre Zukunft selber in die Hand nehmen.»

Finanzsektor entzieht sich der demokratischen Kontrolle

Chesney erinnert an ein Zitat aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das dem Automilliardär Henry Ford zugeschrieben wird**: «Es ist gut, dass die Bevölkerung dieser Nation vom Banken- und Geldsystem nichts versteht. Denn wenn dies der Fall wäre, bekämen wir es wahrscheinlich schon morgen früh mit einer Revolution zu tun.» Das treffe heute mehr denn je zu, meint Chesney: «Durch die schiere Grösse und seine Undurchsichtigkeit versucht der Finanzsektor tatsächlich, sich der demokratischen Kontrolle zu entziehen.»

Grossbanken könnten ein Finanzcasino betreiben, weil «ihre Chefs davon ausgehen, dass die Bank für die Risiken nicht geradestehen muss». Wie damals im Jahr 2008 müssten die Steuerzahlenden auch heute noch in Not geratene Grossbanken retten. Der Staat könne eine UBS, deren Bilanzsumme im Jahr 2017 bei 119 Prozent des gesamten Schweizer Bruttoinlandlprodukts lag, oder eine Credit Suisse, deren Bilanzsumme das BIP sogar um 37 Prozent übertraf, nicht fallen lassen.

Das Wettcasino läuft grösstenteils ausserhalb der Bankbilanzen ab

Doch Vergleiche mit der Bilanzsumme könnten das Systemrisiko einer Grossbank völlig ungenügend darstellen. Denn ihre hochriskanten Wettgeschäfte lagern die Grossbanken aus. Mit sogenannten Derivaten erzielte allein die Credit Suisse im Jahr 2017 ein Geschäftsvolumen von unglaublichen 28'000 Milliarden Franken. Das entspricht ungefähr 36 Mal der CS-Bilanzsumme und 687 Mal dem CS-Eigenkapital. Bei der UBS entsprach das Volumen der Derivate im Jahr 2017 18'500 Milliarden Franken, was dem 20-fachen der UBS-Bilanzsumme und dem 708-fachen des UBS-Eigenkapitals entsprach. Die allermeisten dieser Derivate werden ausserbörslich gehandelt. Nur 0,2 Prozent dieser astronomischen 28'000 Milliarden würden realen Absicherungsgeschäften dienen. Der Rest seien reine Wetten einer Casino-Finanzwirtschaft sowie Marktmanipulationen, die der Realwirtschaft keinen Nutzen, sondern nur Gefahren bringe. «Wer kann da noch glauben, die Situation sei unter Kontrolle?», fragt Chesney.

Wetteinsätze mit Derivaten einfach erklärt

upg. Ein Derivat ist ein Wertpapier oder Finanzprodukt, dessen Preisentwicklung vom Preis eines anderen Finanzproduktes, zum Beispiel einer Aktie (= der sogenannte Basiswert), abhängt. Mit einem Derivat spekuliert man darauf, ob der Preis eines bestimmten Produktes in Zukunft steigen oder fallen wird. Damit hat man eine Option erworben, ein Wertpapier wie eine Aktie an einem zukünftigen Datum zu einem im Voraus bestimmten Preis zu kaufen oder zu verkaufen.
Es wird auf den künftigen Preis eines Wertpapiers gewettet. Man setzt Geld auf eine bestimmte zukünftige Entwicklung. Wenn man richtig lag, gewinnt man und wenn man falsch lag, dann verliert man Geld. So kann man wetten, dass ein bestimmtes Unternehmen einem Teil seiner Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann oder sogar bankrott geht oder dass ein Staat bankrott geht und seine Staatsobligationen nicht mehr verzinsen und zurückzahlen kann. Noch bedenklicher: Grosse Finanzinstitute haben die Macht, Finanzmärkte zu manipulieren. Auf jeden Fall versuchen sie es, damit sich ihre Wetten erfüllen.

Derivate sind zu reinen Wettgeschäften pervertiert

Derivate können für Unternehmen nützliche Instrumente sein, um sich beispielsweise gegen das Risiko eines Zahlungsausfalls oder einer Veränderung des Wechselkurses abzusichern. Dazu dienen im letzten Fall insbesondere Derivate mit dem Namen «Credit Default Swaps» CDS. Eine Bank A beispielsweise, die einem Unternehmen X ein paar Millionen geliehen hat, kann sich mit dem Kauf eines CDS von einer andern Bank B für den Fall absichern, dass das Unternehmen X die Millionen nicht zurückzahlen kann. Kommt es tatsächlich zu einem Zahlungsausfall, muss die andere Bank B, welche das CDS verkauft hatte, den Verlust ausgleichen. In diesem Fall haben CDS die Funktion einer nützlichen Versicherung. Details dazu im Buch «Asset Pricing – Finanzderivate und ihre Systemrisiken»****.

Doch CDS erfüllen diese für die Realwirtschaft nützliche Funktion nur noch in Ausnahmefällen. Der Grund: Grossbanken, Versicherungskonzerne, auf Steueroasen domizilierte Investmentfonds – meist unter Kontrolle von Grossbanken – sowie weitere Spekulanten können CDS kaufen, ohne ein eigenes Risiko abzudecken. Sie können mit dem Kauf von CDS also Wetten eingehen, dass ein bestimmtes Unternehmen oder ein Staat zahlungsunfähig wird, ohne diesem Unternehmen oder diesem Staat je Geld geliehen zu haben.

Was den mächtigen Spekulanten mit ihren Milliarden auf den «Märkten» erlaubt ist, sei im normalen Leben nicht möglich, kommentiert Chesney: «Niemand kann eine Autoversicherung abschliessen, ohne ein Auto zu besitzen … Man kann auch keine zehn oder hundert Versicherungen für das Auto des Nachbarn abschliessen in der Hoffnung, dass er einen Unfall hat, oder in der Absicht, das Auto zu manipulieren!»

Zu den «Wetten der Casino-Finanzwirtschaft» gehören nach Chesney auch Kombinationen von mehreren Derivaten, sogenannte «strukturierte Produkte», die so komplex sind, dass sie Bankkunden nur schwer verstehen. Manchmal gaukeln die Banken eine «Kapitalgarantie» vor, obwohl es schon mehrfach zu absoluten Verlusten kam. Die Verpflichtungen, welche Banken mit strukturierten Produkten eingehen, sind astronomisch. Allein in der Schweiz waren es 2017 nach Angaben von Chesney 275 Milliarden Franken. Der Finanzprofessor sieht in diesen strukturierten Produkten «eine echte Gefahr für Privatanleger, Pensionskassen und Gemeinden» – und damit auch für die Demokratie.

Defekter Mechanismus der Finanzmärkte

Laut Ökonomen sollten die Finanzmärkte dafür sorgen, dass es zu einer optimalen Verteilung des Kapitals und der Risiken kommt. Werde aber das Kapital vor allem für Wetten anstatt für Investitionen eingesetzt, verliere das Kapital seinen produktiven Charakter. Die Finanzsphäre habe sich vom Geist des Unternehmertums entfremdet, sagt Chesney: «Statt der unsichtbaren Hand agiert die Hand des Croupiers der Casino-Finanzwirtschaft, die den Einsatz für die Grossbanken und die Hedgefonds zusammenrafft.»

Die Politik lade Spekulanten geradezu ein, es immer und immer wieder zu versuchen. Das zeige das Beispiel der jahrelangen Manipulation der Libor-Zinsen. Unter den Manipulatoren befand sich neben fünf ausländischen Grossbanken auch die UBS. Sie sei in der Schweiz mit der Zahlung von 134 Millionen davongekommen. So viel hatte die UBS zuvor dank des Betrugs zusätzlich eingesteckt. Eine Busse gab es keine. Kommentar von Marc Chesney: «Bei Nichtentdeckung der Zuwiderhandlungen werden Gewinne gemacht, andernfalls werden sie zurückbezahlt. Das ist so, als würde man einen erwischten Einbrecher lediglich auffordern, die entwendeten Gegenstände zurückzugeben. Das kann ihn nur motivieren, es erneut zu versuchen.

Durchdringung der demokratischen Strukturen

«Auf der Erde gibt es fast 200 souveräne Staaten, aber global haben wenige Dutzend Banken etwas zu sagen», erklärt Christopher Sabatini, der an der «Columbia University's School of International and Public Affairs» lehrt. Der Blackrock-Konzern verwaltet Vermögen in Höhe von 6840 Milliarden Dollar (Stand Juni 2019). Blackrock, Vanguard und State Street – die drei grössten Vermögensverwaltungsfirmen der Welt – bestimmen über mehr als 14'000 Milliarden Dollar. Sie kontrollieren bei den 500 grössten US-Firmen einen Viertel aller Aktienstimmen, wie aus einer Studie der Harvard Law School hervorgeht, welche der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann zitiert.

Grossbanken, grosse Versicherungen und Vermögensverwaltungskonzerne können sich mit ihrer geballten Finanzmacht gegen wirksame Regulierungen erfolgreich wehren. Marc Chesney schreibt in seinem Buch: «Der Finanzsektor tut alles, damit seine Interessen an erster Stelle kommen». Vor der letzten grossen Finanzkrise zwischen 1998 und 2008 habe der Finanzsektor in den USA «1,7 Milliarden Dollar ausgegeben, um Wahlkampagnen seiner Verbündeten zu finanzieren, sowie 3,4 Milliarden Dollar für Lobbyarbeit». Um die Wahlen der USA von 2016 zu beeinflussen – sowohl diejenige des Präsidenten als auch diejenigen des Senats und des Repräsentantenhauses, hat die Wall Street laut Fortune Magazine 2 Milliarden Dollar bezahlt. 55 Prozent davon gingen an Verbündete der Republikaner und 45 Prozent an Verbündete der Demokraten.***

Doch nicht allein in der finanziellen Potenz sieht Marc Chesney einen Machtfaktor der Finanzindustrie, sondern ebenso in deren auch absichtlich konstruierten Komplexität. Man gehe davon aus, dass lediglich die Führungskräfte von grossen Finanzinstitutionen diese Komplexität verstehen und beherrschen. Viele von ihnen treffe man später in höchsten politischen Ämtern an.

Dies gelte beispielsweise für die ehemaligen Topmanager der Bank Goldman Sachs Robert E. Rubin oder Henry M. Paulson Jr., die später Finanzminister der Bush- und Obama-Regierung wurden.1
Das Gleiche sei der Fall für Mario Draghi, der bis im Sommer 2019 Chef der Europäischen Zentralbank war, für Mark Carney, Gouverneur der britischen Zentralbank, für William Dudley, Direkor der Federal Reserve Bank in New York, sowie auch für Mario Monti, italienischer Ministerpräsident von 2011 bis 2013.1
Sie alle hatten hohe Positionen bei der Grossbank Goldman Sachs bekleidet.

Chesney zählt noch weitere Beispiele auf. «Diese als neutral dargestellten Technokraten setzen meist eine Politik durch, welche diejenigen Finanzinstitute begünstigt, denen sie gedient haben –oder dienen werden, wie zum Beispiel José Manuel Barroso, Expräsident der Europäischen Kommission, der 2016 bei Goldman Sachs als Berater und Präsident ohne exekutive Befugnisse angestellt wurde.
Ein weiteres Beispiel sei Philipp Hildebrand, der im Jahr 2012 sein Amt als Präsident der Schweizerischen Nationalbank niederlegte und noch im gleichen Jahr zum weltgrössten Vermögensverwalter Blackrock wechselte.

Bevölkerung kann nicht mitreden

Die mächtigen Player der Finanzindustrie agieren weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Chesney formuliert es so: «Faktisch ist die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung von der Debatte um die Risiken der Finanzmärkte und ihrer Finanzinnovationen ausgeschlossen. Für die Demokratie ist dies bedenklich, und für die Steuerzahlenden erst recht, weil sie in letzter Instanz für diese Risiken aufkommen müssen.»

Der Zürcher Finanzprofessor hält es für «dringend erforderlich», die Grösse und Komplexität der Finanzsphäre zu verringern, «damit sie wieder ihrer Rolle im Dienst der Wirtschaft und der Gesellschaft gerecht werden kann».

Paradoxerweise werde in dieser Richtung aber nichts unternommen, obwohl es «um die Wahl geht zwischen der Diktatur des Finanzsektors und einer Demokratie, in der die Bürgerinnen und Bürger ihre Zukunft selber in die Hand nehmen».

Demokratie im Griff von vier Imperien

Unsere Demokratie wird laut Analyse von Marc Chesney von vier Imperien pervertiert, weil deren Lobbys zu viel Macht auf unsere Gesellschaft ausüben.
1. Das Militärimperium: Es sei «unverhältnismässig gross» und beanspruche zu viele Investitionen und Energien, die andernorts fehlen.
2. Das Energieimperium: Die Förderung von Schiefergas und die Atomenergie setzten die Bevölkerungen unkontrollierbaren Risiken aus, die keine Versicherungen decken. Seit der Preis für Erdöl in Dollar notiert wird, sei der «Gold-Standard» der Währungen faktisch durch einen «Erdöl-Standard» ersetzt worden. Seither sei die ganze Weltwirtschaft von den Erdölpreisen beeinflusst. Die Etikette «Krieg gegen den Terrorismus» sei wie in Syrien, dem Irak oder in Libyen häufig ein Vorwand, um fossilen Energieträgern habhaft zu werden. [Nicht nur in Entwicklungsländern, sondern sogar in Industriestaaten wie Kanada können Erdöl- und Rohstoffkonzerne dafür sorgen, dass die Milliarden am Volk vorbeifliessen]
3. Das Imperium der Informationstechnologie: Auch demokratische Staaten könnten damit die Bevölkerungen kontrollieren, was dazu beitrage, der Demokratie einen nur noch virtuellen Charakter zu verleihen.
4. Das Finanzimperium: Es strukturiere sich um die Megabanken herum, die durch Aufkäufe in Branchen wie Versicherungen, Energie, Metalle oder Nahrungsmittel eindringen. Sie würden ihre Macht ausbauen, ohne dass irgendeine Regierung auch nur daran denke, diese Machtanballung zu begrenzen oder zu beenden.
In der Neuauflage seines stark überarbeiteten Buchs «Die permanente Krise – Der Aufstieg der Finanzoligarchie und das Versagen der Demokratie» zeigt Finanzprofessor Marc Chesney auf, dass die Grossfinanz – statt eine Dienstleistung der realen Wirtschaft zu sein – die Haupttätigkeit aufs reine Spekulieren verlegt hat und für die reale Wirtschaft und die Demokratie eine echte Bedrohung darstellt. Es sei dringend nötig, dass der Charakter dieses «Finanzcasinos» nicht vernebelt, sondern offengelegt werde.

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** "It is well enough that people of the nation do not understand our banking and monetary system, for if they did, I believe there would be a revolution before tomorrow morning."
*** Fortune Magazine, 8.3.2017: «Wall Street Spent $2 Billion Trying to Influence the 2016 Elections».
**** Chesney, M., Krakow, J., Maranghino-Singer, B., Münstermann, L. : «Asset Pricing - Finanzderivate und ihre Systemrisiken», Springer Verlag, 2018

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1Red. Beim Übersetzen aus der französichen Originalversion hatten sich bezüglich Rubin, Paulson und Monti Fehler in deren Berufsbezeichnung eingeschlichen, die hier korrigiert sind.

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