11. September 2018
| Neue Zürcher ZeitungLehman Brothers: der Bankrott einer Bank und derjenige eines Systems
Der Bankrott von Lehman Brothers steht sinnbildlich für ein aus dem Ruder gelaufenes Finanzsystem. Das Eigenkapital der Grossbanken ist seither im Verhältnis zu ihrer Bilanzsumme zwar leicht angestiegen, es ist aber nach wie vor viel zu gering.
Am 15. September 2008 wurde Lehman Brothers Holdings Inc. unter den Schutz von Chapter 11 des amerikanischen Konkursgesetzes gestellt. Das war der Anfang eines langen und komplexen Prozesses, begleitet von Gläubigerforderungen im Umfang von rund 1200 Milliarden Dollar. Noch im letzten Jahresbericht von Lehman Brothers finden sich Begriffe wie «Performance-Rekorde», «hervorragende Ergebnisse», «Talent-Management-Anstrengungen», «Exzellenz» und «Fokus auf Risiko-Management». 2007 brüstete sich die Bank damit, die «Nummer eins» im Algorithmus-Trading zu sein und 42 «best in class»-Auszeichnungen für Exzellenz im Global Custodian Prime Brokerage Survey 2007 erhalten zu haben. Die Bank brachte ihren Namen überdies bereits am Rande des Bankrotts noch mit Nachhaltigkeit und Verantwortung in Verbindung; als eines ihrer Ziele nannte sie etwa die Verringerung von Umweltauswirkungen ihrer Aktivitäten.
Analysten haben versagt
Retrospektiv erscheint dieser Jahresbericht als reine Propaganda. Doch die grossen Rating-Agenturen wie Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch Ratings haben dies gestützt, indem sie Lehman Brothers noch wenige Tage vor dem Bankrott gute Bewertungen von mindestens A gegeben haben. Und Richard Fuld, der ehemalige CEO, hat zwischen 2000 und 2007 ungefähr eine halbe Milliarde Dollar erhalten; dies als Verantwortlicher einer Strategie, welche die Bank in den Bankrott geführt hat.
Die Jahresberichte von Lehman Brothers wurden nicht kritisch genug analysiert.
Analysten haben diesen Jahresbericht offensichtlich nicht mit kritischem Blick gelesen. Eigentlich hätten die Alarmglocken läuten müssen in Anbetracht der vielen dubiosen Geschäfte und der komplexen derivativen Produkte. Letztere wiesen eine völlig unverhältnismässige Höhe von 35 000 Milliarden Dollar auf. Das heisst, ihr Nominalwert entsprach 50-mal der Bilanzsumme und etwa 1500-mal dem Eigenkapital der Bank. Das Eigenkapital betrug gerade einmal 3,25 Prozent der Bilanzsumme. Für die Finanzanalysten aber scheint das nicht relevant gewesen zu sein. Sie haben die enormen Schulden und die gigantischen Derivategeschäfte nicht zum Thema gemacht. Sie haben sich wahrscheinlich auf die Netto-Exposures der Derivate fokussiert. Es sind indes auch die ausstehenden Nominalbeträge relevant, vor allem, wenn eine Bank am Rande eines Bankrotts steht.
Ungeachtet der lobenden Jahresberichte und der Expertisen zahlreicher Sachverständiger sind die Schulden der Grossbanken nach wie vor überproportional.
Und wo stehen wir heute? Das Eigenkapital der Grossbanken ist im Verhältnis zu ihrer Bilanzsumme zwar leicht angestiegen, es ist aber nach wie vor viel zu gering. Ungeachtet der lobenden Jahresberichte und der Expertisen zahlreicher Sachverständiger, ungeachtet der von den Rating-Agenturen gewährten guten Bewertungen und Tausender Seiten an Regulierungen, sind die Schulden der Grossbanken nach wie vor überproportional, der Nominalwert ihrer derivativen Produkte gigantisch – ebenso wie die Entlöhnung des Managements. Die Party der Finanzoligarchie geht weiter.
Konkret machte zum Beispiel der Nominalwert der Derivate bei Goldman Sachs im Jahr 2017 ungefähr 48 900 Milliarden Dollar aus. Das entsprach etwa 53-mal der Bilanzsumme und 568-mal ihrem Eigenkapital. Zudem waren diese Geschäfte 2,5-mal so gross wie das Bruttoinlandprodukt (BIP) der USA. Citigroup wies mit einem Betrag von 45 700 Milliarden Dollar einen ähnlich hohen Bestand an derivativen Produkten auf. Diese waren 25-mal so hoch wie das gesamte Vermögen der Bank und 227-mal so hoch wie ihr Eigenkapital.
Beunruhigende Macht
Ein Blick in die Schweiz zeigt, dass der Nominalwert der Derivate der CS 2017 einen Umfang von 28 800 Milliarden Franken aufwies. Damit waren diese ungefähr 36-mal so hoch wie ihre Bilanzsumme und 687-mal so hoch wie ihr Eigenkapital. Zum Vergleich: Der Wert dieser Produkte entsprach etwa 43-mal dem BIP der Schweiz und etwas mehr als einem Drittel der Weltwirtschaftsleistung. Der Nominalwert der Derivate der UBS betrug im gleichen Jahr 18 500 Milliarden Franken und war 20-mal so gross wie ihre Bilanzsumme beziehungsweise 361-mal so hoch wie ihr Eigenkapital. Hiermit machte es 28-mal das Schweizer BIP und rund einen Viertel der Weltwirtschaftsleistung aus.
Auch das Derivatevolumen der Deutschen Bank zeigt ein ähnliches Bild. Es wies 2017 eine Höhe von 48 265 Milliarden Euro auf. Dies entsprach 33-mal ihrem gesamten Vermögen und 708-mal ihrem Eigenkapital. Damit war es ungefähr 15-mal so gross wie das Deutsche BIP und machte etwa 67 Prozent der Weltwirtschaftsleistung aus. Zwischen 2008 und 2018 hat sich der Schattenbankensektor stark entwickelt – wie zum Beispiel Black Rock, die tatsächlich «too big to fail» ist und ein Vermögen von mehr als 6000 Milliarden Dollar verwaltet. Dieser Sektor ist besonders undurchsichtig und besitzt eine beunruhigende Macht.
Der Bankrott von Lehman Brothers steht für das Fiasko eines Finanzkasinosystems, in welchem die Schulden, die Wetten und der Zynismus die Oberhand über die Ersparnisse, die Investitionen und das Vertrauen gewonnen haben. Die Grossbanken profitieren – «too big to fail» – von Vorteilen aller Art und zahlreichen Garantien, die den Prinzipien des Liberalismus, für welche sie angeblich stehen, völlig widersprechen.
Marc Chesney ist Professor für Quantitative Finance an der Universität Zürich, Mitglied von Kontrapunkt und Autor des Buches «Die permanente Krise», das im Dezember 2018 erscheint.