21. Dezember 2018
| InfosperberGelbwesten holen Rat bei Schweizer Finanzprofessor
Die «gilets jaunes» kritisieren das unsoziale Steuersystem. Jetzt macht Finanzprofessor Marc Chesney Furore, schreibt «Le Temps».
«Jetzt hat Professor Marc Chesney den Vorschlag einer Mikrosteuer auf allen elektronischen Geldtransaktionen anstelle der Mehrwertsteuer auch für Frankreich berechnet», berichtete «Le Temps». Sein Vorschlag aus dem Jahr 2015 sei seit Anfang November von Anhängern der «gilets jaunes» auf Facebook und Twitter plötzlich hunderttausendfach geteilt worden. Es folgten viele «enthusiastische Kommentare». «Das Volk wäre sicher dafür, aber man fragt es nicht», bedauerte ein Kommentar-Schreiber. Andere mokierten sich über Präsident Emmanuel Macron, der mit einem solchen Vorschlag bei seinen Freunden des Finanzsektors kaum ankomme.
Während die in der EU bereits schubladisierte Kapitaltransaktionssteuer, auch Tobin-Steuer genannt, eine Steuer lediglich auf Börsengeschäften vorsieht, würde eine Mikrosteuer sämtliche elektronischen Zahlungen erfassen: Ob im Verkehr unter und mit Banken und Unternehmen oder mit Kredit- oder Postcard spielt keine Rolle. Nur Zahlungen mit Bargeld wären ausgenommen.
Mit einer Mikrosteuer die Mehrwertsteuer von 20 Prozent abschaffen
Einige Vertreter der Gelbwesten baten den Zürcher Finanzprofessor, seinen Vorschlag näher zu erläutern. Darauf publizierte die abonnierbare Online-Zeitung «ladepêche.fr» ein Interview mit Chesney unter dem Titel «Un chercheur franco-suisse a trouvé comment supprimer la TVA» [TVA = MWSt]. Die Kernaussage:
«Vorsichtig gerechnet kämen mit einer Mikrosteuer von 0,1 oder 0,2 Prozent 200 Milliarden Euro zusammen, so dass man die Mehrwertsteuer damit vollständig ersetzen könnte.»
Die 20-prozentige Mehrwertsteuer in Frankreich sei «viel zu hoch». Zur Kasse kämen vor allem die Ärmsten und die Mittelklassen.
Erster Schritt einer radikalen Steuerreform
Frankreichs drittgrösste Regionalzeitung «Sud Ouest» veröffentlichte einen Gastbeitrag von Professor Marc Chesney. Unter dem Titel «Die Mikrosteuer als Lösung des allgemeinen Steuerfrusts?» schlägt Chesney den Gelbwesten als ersten Schritt einer radikalen Steuerreform die Mikrosteuer vor. Der Finanzprofessor gibt den Gelbwesten recht: «Das heutige Steuersystem ist mehr als hundert Jahre alt, archaisch und bürokratisch». Es presse diejenigen aus, die eh schon wenig haben. Seine Komplexität ermögliche es den Besitzern, immenser Vermögen anzuhäufen, und lade sie geradezu ein, die Steuern zu umgehen.
Die Ärmsten sollten für Benzin mehr zahlen, ohne dass man ihnen Alternativen mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit sauberer Energie zum Fahren biete. Nur ein Fünftel der gegenwärtigen Einnahmen aus Benzinsteuern fliesse in erneuerbare Energien.
Finanzcasino eindämmen – Massnahmen gegen die Klimaerwärmung finanzieren
In der Zeit der Digitalisierung, die zu einer Prekarisierung der Arbeit und zu Unterbeschäftigung führe, sei es «kontraproduktiv», Arbeitstätigkeiten zu besteuern. Das Besteuern der elektronischen Geldtransaktionen hätte den Vorteil, die Arbeit zu entlasten und die «Aktivitäten des Finanzcasinos stark einzuschränken».
Um die nötigen Massnahmen gegen die Klimaerwärmung zu finanzieren, brächte eine höhere Mikrosteuer von 0,3 oder 0,4 Prozent mindestens zusätzliche 200 Milliarden Euro ein, die zur Durchsetzung sauberer Energien und alternativen Transportsystemen mit geringer CO2-Belastung verwendet werden könnten.
Volksinitiative in der Schweiz
In der Schweiz treibt Professor Chesney den Vorschlag einer Mikrosteuer anstelle der Mehrwertsteuern und möglicherweise auch der Bundessteuern zusammen mit dem Vermögensverwalter Felix Bolliger und dem früheren Bundesratssprecher Oswald Sigg voran. Ab kommendem Frühjahr sollen Unterschriften für eine entsprechende Volksinitiative gesammelt werden.
«Lösungen für die Finanzprobleme sind vorhanden», schrieb Chesney in seinem Gastbeitrag für «Sud Ouest». Es brauche dazu nur Parlamentarier, die «sich um das Allgemeinwohl kümmern und aufhören, die Interessen mächtiger Lobbys zu vertreten».
Chesney schliesst mit der Frage: «Ist das zu viel verlangt?».