14. Juli 2020
| InfosperberSagten Sie «zurück zur Normalität»?!
Verkehrsstaus, Luft voller Ozon, hektisches Leben, endlose Flugreisen ... wie sehr haben wir das alles doch vermisst!
Marc Chesney / 14. Jul 2020 -
Red. Dieser Gastbeitrag von Marc Chesney, Leiter des «Instituts für Banking und Finance» der Universität Zürich, erschien zuerst in «Le Temps».
Während fast drei Monaten hat Covid-19 die Wirtschaft k.o. geschlagen. Doch jetzt soll es mit der Party wieder losgehen: mit dem grossflächigen Vernichten von Tierarten (etwa zwei Drittel sind bereits verschwunden), mit Entwaldung, Umweltverschmutzung, globaler Erwärmung sowie mit extremen und konfliktträchtigen sozialen Ungleichheiten. Und sollten unsere Bronchien von wiederkehrenden Viren oder von Abgasen des intensiven und verantwortungslosen Gebrauchs fossiler Brennstoffe infiziert werden, nun, es wäre egal, meint der so hervorragende Präsident der Vereinigten Staaten, denn ein paar Dosen Bleichmittel würden ausreichen, um diesen Kollateralschaden zu reparieren.
Der Patient Null wird noch gesucht. Nur der Präsident Null ist leicht auszumachen, auch wenn ihm andere auf der ganzen Welt auf den Fersen sind. Also lasst den Champagner fliessen, während die Erde weiter blutet!
Eine Raubtier-Wirtschaft
Halten wir einen Moment inne und denken wir nach. Viele Experten beschäftigen sich mit der Frage, wie die Weltwirtschaft nach Covid-19 wieder zur Normalität findet. Es wäre allerdings wichtig, umgekehrt zu verstehen, dass es die Wirtschaft in ihrer vermeintlichen Normalität ist, welche das Risiko von Pandemien erheblich erhöht und ihre Ausbreitung erst ermöglicht. Denn in der Tat können Epidemien viel leichter entstehen und sich verbreiten, wenn Urwälder abgeholzt und die biologische Vielfalt dezimiert werden. Und in einer globalisierten Wirtschaft verbreitet sich ein Infektionsherd besonders rasch von einem Land oder Kontinent zum anderen.
Diese Faktoren betreffen nicht nur die Gesundheit. Sie sind auch von politischer, sozialer und wirtschaftlicher Art. So fördern Regierungen in Südamerika und anderswo das Abholzen von Wäldern, um genmanipulierte Sojabohnen mit massivem Pestizideinsatz intensiv zu produzieren. Die Sojabohnen werden dann mit Pestiziden bespritzt nach Europa und anderswohin verschifft und dort Tieren verfüttert, die in Massentierhaltungen gequält, in schrecklichen Schlachthöfen getötet werden und schliesslich auf unseren Tellern landen.
Worum handelt es sich genau?
Um mächtige finanzielle Interessen, die unserem Wohlergehen und unserer Gesundheit entgegenstehen. Um eine krank machende Raubtier-Wirtschaft, die grundlegend überdacht werden muss, wenn wir nicht riskieren wollen, mit ihr in den Abgrund zu stürzen. Um eine Wirtschaft, die mit Stolz und Akribie ihre Produktion jedes Jahr mit dem Massstab des BIP ausweist, sich aber gleichzeitig weigert, ebenso akribisch aufzulisten, was sie alles in grossem Massstab zerstört. Um eine Wirtschaft, die sich rühmt, mit Satelliten im Weltraum nach Wasser oder Leben auf anderen Planeten zu suchen, die jedoch nicht in der Lage ist, auf dem Planeten Erde das Leben so zu erhalten und zu fördern, wie es für uns und künftige Generationen sein sollte.
Eine Rückkehr zum «Anormalen»
Ein Wirtschaftswachstum, das auf der Grundlage der Zerstörung von Leben beruht, ist eine gefährliche Fehlkonstruktion. Eine «Rückkehr zum Normalen» bedeutet eine «Rückkehr zum Anormalen» und wäre der beste Weg, in zukünftige Katastrophen zu schlittern.
Kurzfristig wäre all jenen finanziell zu helfen, die Covid-19 in Bedrängnis gebracht hat. Mit der Einführung einer Mikrosteuer auf allen elektronischen Transaktionen würde dieses Ziel erreicht, ohne die Staatsverschuldung zu erhöhen. Gleichzeitig würde eine solche Mikrosteuer das systemgefährdende Finanzcasino zügeln.
Neben diesen dringlichen Massnahmen wären Lehren aus dieser Pandemie zu ziehen. Sowohl die heutige als auch künftige Generationen haben das Recht, in einer lebenswerten Umwelt würdig zu leben. Dafür müssen die Grundlagen und das Funktionieren des heutigen Wirtschaftens grundsätzlich in Frage gestellt werden.
Wir müssen die tödlichen Merkmale identifizieren und sie, wie ein Arzt es tut, als Krebsgeschwüre behandeln. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber welches sind die Alternativen? Einfach unsere Augen schliessen? Künftigen Generationen eine bedrohliche Erderwärmung hinterlassen? Eine geschädigte Umwelt, die wiederholte Pandemien begünstigt? Eine entmenschlichte Gesellschaft, die auf einer extremen Überwachung der Bevölkerung beruht, sogar jenseits der Fiktionen, die Jules Verne in seinem Roman «Paris im 20. Jahrhundert» und George Orwell in seinem Buch «1984» beschrieben haben? Das wäre unverantwortlich.
Paradoxerweise musste die wirtschaftliche Produktion praktisch zum Stillstand kommen, damit die Schadstoffbelastung sank, die Menschen leichter atmen konnten und die Natur sich wieder etwas Platz verschaffen konnte. In «normalen» Zeiten sterben infolge der Luftverschmutzung weltweit etwa neun Millionen Menschen vorzeitig an Lungenkrankheiten. Das zeigt, dass eine Rückkehr zur «Normalität der Wirtschaft» gefährlich wäre. Ziel muss es vielmehr sein, die Wirtschaft so umzugestalten, dass sie in Einklang gebracht wird mit dem Leben auf unserem Planeten.