Kritische Analyse des Finanzsektors

Juli 2013

| NZZ

Der Liberalismus und die Logik des Finanzsektors

Die Privatisierung von Gewinnen und die Sozialisierung von Verlustender «Too big to fail»-Banken widersprechen den Grundprinzipien des Liberalismus.
Gastkommentar von Marc Chesney, Ökonom

In den 1980er Jahren gelang die neoliberale Politik zu ihrer praktischen Umsetzung: Diese Politik begann – unter Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Grossbritannien – mit einer Deregulierungs- und Privatisierungswelle.

Für den Finanzsektor, der zum Nervensystem derWirtschaft wurde, schuf die Deregulierungspolitik ein fragwürdiges System impliziter Regeln, wie z. B. diejenige, die den Rating-Agenturen eine exorbitante Macht verleiht, diejenige, die es den «Too big to fail»-Finanzinstituten erlaubt, sich zu geringeren Kosten zu finanzieren, wodurch ihnen Subventionen gewährt werden, und schliesslich diejenige, die den Steuerzahler zwingt, diese Institute vor einem allfälligen Konkurs zu retten.

Die Kartellmacht, die Subventionen, die Privatisierung von Gewinnen und die Sozialisierung von Verlusten widersprechen den Grundprinzipien des Liberalismus. Im Folgenden soll analysiert werden, inwiefern die Funktionsweise der Finanzsphäre den Grundprinzipien und den deklarierten Zielen des Liberalismus noch entspricht; dies anhand von Ludwig von Mises, einem der profiliertesten neoliberalen Autoren.

In seiner Schrift «Liberalismus» von 1927 schrieb Ludwig von Mises, der Liberalismus habe «nichts anderes im Auge als die Förderung der äusseren, der materiellen Wohlfahrt der Menschen». Immer habe der Liberalismus dabei «dasWohl des Ganzen, nie das irgendwelcher Sondergruppen im Auge gehabt ». Um zu überprüfen, ob unsere Gesellschaft dieses Merkmal des Liberalismus verkörpert, ist die Einkommensverteilung relevant.

2006 haben die 20 bestbezahlten CEO von Hedge-Funds in den USA im Durchschnitt 657 Millionen Dollar verdient. Ihr Einkommen lag damit fast 15 000-mal über dem Durchschnittseinkommen und betrug etwa 10-mal mehr als der Durchschnitt der 20 bestbezahlten CEO von Nicht-Finanz-Unternehmen. John Paulson, Chef des gleichnamigen Hedge-Fund, verdiente 2007 rund 3,7 Milliarden Dollar und damit etwa 80 000-mal mehr als das Durchschnittseinkommen. Noch problematischer werden solche astronomischen Gehälter, wenn sie mit schweren Verlusten für Steuerzahler und Aktionäre einhergehen. So verdiente Richard Fuld, Ex- CEO von Lehman Brothers, in den Jahren 2000 bis 2007 gemäss Schätzungen rund eine halbe Milliarde Dollar, und dies trotz einer Strategie, welche die Bank in die Insolvenz führte.

Gemäss von Mises kann in einer liberalen Gesellschaft nur ein allgemeiner Produktivitätsanstieg bei der Arbeit zu höheren Löhnen in einem Sektor führen. Für den Finanzsektor wäre es jedoch zynisch zu argumentieren, dass die Explosion bei den Spitzengehältern durch einen Zuwachs bei der Produktivität gerechtfertigt werden kann.

Was die Ärmsten dieser Welt betrifft, sind die Zahlen leider auch sehr beeindruckend. Am Anfang des Jahrhunderts hatten gemäss dem Entwicklungsprogramm der Uno etwa 40 Prozent der Weltbevölkerung weniger als 2 Dollar pro Tag zur Verfügung. Gemäss der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Uno sterben gegenwärtig mehr als zweieinhalb Millionen Kinder jährlich an chronischer Unterernährung. Es ist also ein massiver Transfer von den tiefen und mittleren zu den sehr hohen Einkommen festzustellen.DasWohl des Ganzen wird zugunsten der Interessen einer Sondergruppe vernachlässigt: der Finanzaristokratie.

Von Mises schreibt weiter: «Die antiliberale Politik ist Kapitalaufzehrungspolitik. Sie empfiehlt, die Gegenwart auf Kosten der Zukunft reichlicher zu versorgen.» In diesem Kontext sei die Verschuldung betrachtet, da sie die Verbindung zwischen Gegenwart und Zukunft darstellt. In den USA betrug die Gesamtverschuldung (von Haushalten, Unternehmen, Staat und Finanzsektor) 2012 insgesamt 53,1 Billionen Dollar, was etwa 340 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) entspricht. Vergleichbare oder noch schlimmere Daten sind für andere Industrieländer erhältlich.

In der heutigen finanzdurchdrungenen Wirtschaft ist die Verschuldung zu einem wesentlichen Faktor für das Wirtschaftswachstum geworden. In den USAund in Grossbritannien ist die Gesamtverschuldung zwischen 2001 und 2005 jährlich um etwa 6,5 bzw. 8,3 Prozent gestiegen, während das BIP im Durchschnitt um 2,4 bzw. 3,0 Prozent gewachsen ist. Deutlich kleiner war das BIP-Wachstum währenddessen in einem Land wie Deutschland (0,6 Prozent), in dem die Gesamtverschuldung weniger stark gestiegen ist (2,3 Prozent). Der Ausbruch der Krise hat die Oberflächlichkeit des schuldengetriebenen Wachstums aufgezeigt. Zudem wurden die Gefahren einer kasinoartigenWirtschaft ersichtlich, die sich auf kurzfristigeWetten und Schulden fokussiert statt auf langfristige Investitionen und Ersparnisse. Die Verschuldungsniveaus von Ländern oder Banken sind nicht mit einem ausgewogenen und nachhaltigen Verhältnis zwischen Gegenwart und Zukunft kompatibel. Die derzeitige Politik versorgt die Gegenwart auf Kosten der Zukunft.

Die Funktionsweise des Finanzsektors fördert die Risikofreudigkeit einer Sondergruppe, des Managements von Grossbanken und Hedge-Funds, zulasten der Gesellschaft. Dies widerspricht einem der Grundprinzipien des Unternehmertums: Wer Investitionsrisiken eingeht, soll diese auch tragen.

Besonders problematisch im heutigen Finanzsektor ist die Funktionsweise seiner Märkte, Akteure, Praktiken und Finanzprodukte.

Die Börse sollte die Finanzierung der Unternehmen vereinfachen. Dies ist heute immer weniger der Fall. So deckten beispielsweise französische Unternehmen gemäss Dealogic im Jahr 2011 nur 5,4 Prozent ihres Finanzbedarfs über die Börse. 2001 waren es noch 27 Prozent. Die Hauptfunktion der Börse ist die optimale Allokation von Kapital und Risiko. Diese Aufgabe wird heutzutage nicht erfüllt. Das Kapital wird immer mehr von unproduktiven Finanzaktivitäten aufgesaugt, wie die derzeitige Investitionsdauer widerspiegelt. Gemäss verschiedenen Quellen hält heute ein Investor in den USA seine Aktien im Durchschnitt etwa 22 Sekunden, während dieseDauer 1940 noch 7 Jahre betrug. Dieser Durchschnitt wird durch die Entwicklung des Hochfrequenzhandels (etwa 70 Prozent der Transaktionen in den USA) ermöglicht, der es erlaubt, Aufträge innerhalb von Millisekunden aufzugeben und zu stornieren. Es wäre naiv zu glauben, dass es im Durchschnitt in der Grössenordnung von Sekunden oder Millisekunden Neuigkeiten zu den Fundamentaldaten für Aktien gibt.

Die Millisekunde ist jedoch nicht die zeitliche Einheit von Investitionen in der Realwirtschaft, die Wochen, Monate oder Jahre erfordern. Sie ist vielmehr die zeitliche Einheit von Wetten in einer Kasino-Wirtschaft, die der Logik des Unternehmertums widerspricht und in der das Kapital seine Eigenschaft als Kapital verliert.

Ein grosser Teil der Finanztransaktionen findet «over the counter» (OTC) statt, das heisst ausserhalb von Börsen. Im Sinne der Marktwirtschaft handelt es sich dabei nicht wirklich um Markttransaktionen. Es sind Verträge zwischen zwei Finanzakteuren, die sehr intransparent sind. Die «unsichtbare Hand» von Adam Smith verlangt zwingend Märkte, um operativ zu sein, Märkte, auf denen sich Angebot und Nachfrage treffen, um Preise und Handelsvolumina transparent zu erzeugen. Das ist nicht der Fall bei OTC-Transaktionen, die es aufgrund ihrer Undurchsichtigkeit nicht ermöglichen, Angebot und Nachfrage aggregiert zu bilden. Die Entwicklung von OTC-Transaktionen ist auch mit der Verbreitung des Hochfrequenzhandels in Verbindung zu bringen. Die Geschwindigkeit der Transaktionen schadet den kleinen Finanzakteuren, die keinen Zugang zu entsprechend entwickelter Infrastruktur haben – und deshalb auf OTC-Märkte ausweichen.

Der Bankensektor scheint immer weniger in der Lage zu sein, seine Funktion als Motor derRealwirtschaft wahrzunehmen. In Deutschland und Frankreich verwenden Finanzinstitute nur noch einen kleinen Teil ihrer Bilanzsumme für Kredite an Nicht-Finanz-Unternehmen und Haushalte: 28 bzw. 22 Prozent (18 bzw. 12 Prozent für Unternehmen und jeweils 10 Prozent für Haushalte). In Grossbritannien ist der Anteil mit 19 (bzw. 5 und 14) Prozent noch kleiner (vgl. hierzu E. Liikanen et al., Highlevel Expert Group on reforming the structure of the EU banking sector, 2012). Der Bankensektor ist von «Too big to fail»-Instituten dominiert. Ihre Bilanzsumme beträgt in gewissen Fällen über 100 Prozent des BIP des Landes, in dem sie ihren Sitz haben, was unverhältnismässig ist. Die Bilanzsummen der UBS und der CS betrugen im Jahr 2011 223 bzw. 165 Prozent des Schweizer BIP. Zudem belief sich die Bilanzsumme aller britischen und französischen Banken auf 380 bzw. 298 Prozent des jeweiligen BIP.

Ausserdem können sich diese Institute dank der ihnen gewährten Staatsgarantie zu tieferen Zinsen finanzieren, als sie dies in einer Marktwirtschaft tun müssten. Diese Subventionen betragen in Europa etwa 1 Prozent des BIP im Jahr 2011 (vgl. M. Bijlsma, R. Mocking, The private value of too-big-to-fail guarantees, Bepa, 2012), d. h. rund 6 Milliarden Franken im Fall der Schweiz. Sie werden zusätzlich dazu verleitet, Geschäfte zu tätigen, die zu risikoreich sein könnten und auf die sie verzichtet hätten, wenn sie sich zum Marktzins hätten finanzieren müssen.

Der Bankensektor verfügt zusätzlich zu diesem «Too big to fail»-Vorteil über zwei weitere: über die Möglichkeit, erstens Ausserbilanzgeschäfte zu betreiben und zweitens, im Notfall, eine «Bad Bank» zu bilden. Welcher andere Wirtschaftssektor geniesst so viele Vorzüge? Wie viele Grossbanken wären ohne diese Vorteile schon bankrott?

In einer Marktwirtschaft mit effizienten und transparenten Finanzmärkten hätten Rating-Agenturen nur eine beschränkte Rolle, da der Preis von Wertpapieren bereits alle relevanten Informationen reflektieren würde. Die blosse Existenz solcher Agenturen sowie die Rolle, die ihnen eingeräumt wird, zeugen von der heutigen Dysfunktionalität der Marktwirtschaft. Ausserdem sind die meisten Eigentümer der Rating-Agenturen Hedge-Funds und grosse Banken. Die Grossbanken sind zudem die besten Kunden der Rating-Agenturen. Dies schafft starke Interessenkonflikte, die sich nicht mit effizient funktionierenden Finanzmärkten und den Prinzipien einer liberalen Gesellschaft vereinbaren lassen.

Diese Interessenkonflikte führen dazu, die Frage nach der Objektivität und Seriosität dieser Bewertungen zu stellen, dies umso mehr, als eine Bewertung im Durchschnitt zwei bis drei Stunden Arbeit erfordert (vgl. W. Rügemer, Rating-Agenturen, 2012).

Der Libor ist der Referenzzins für Finanzverträge im Umfang von mehr als 300 000 Milliarden Dollar; er ist damit wesentlich für den Betrieb des internationalen Finanzsektors. In einer Marktwirtschaft sollte sich seine Festsetzung aus einem Marktmechanismus ergeben. Das ist nicht der Fall. Anstatt auf Markttransaktionen wurde auf Meinungen gesetzt. Für unterschiedliche Währungen und Laufzeiten geben ausgewählte Banken täglich an, zu welchen Zinssätzen sie von anderen Banken Kredit erhalten könnten.

Der Libor resultiert aus diesen Eingaben. Heute stehen mehr als ein Dutzend Banken unter Manipulationsverdacht (entweder um eine bessere Bonität zu signalisieren oder um mit Zinsderivaten Gewinne zu optimieren). Barclays hat zwischen 2005 und 2009 mindestens 257 Manipulationsversuche unternommen; bei der UBS sollen es mindestens 1000 gewesen sein, mit mindestens 30 involvierten Personen. Die Bank bezahlte externen Börsenmaklern 15 000 Pfund pro Quartal, damit sie der UBS halfen, die Libor-Eingaben mit anderen Banken zu koordinieren. Die UBS musste eine Busse von zirka 1,4 Milliarden Franken bezahlen. Zudem hat die Bank rund 100 Millionen Franken für die interne Untersuchung und die Überprüfung Front 11.06.12 / Nr. 133 / Seite 1 01 #BÖRSEN UND MÄRKTE Investoren wetten auf Lockerungen Investoren in den USA bringen sich zurzeit in Position, um von einer weiteren quantitativen geldpolitischen Lockerung zu profitieren. Seite 21 Meinung und Debatte 01.07.13 / Nr. 149 / Seite 15 / Teil 03 !NZZ AG von enormen Datenmengen ausgegeben. Es mussten 410 Rechtsanwälte eingesetzt werden, um diese Arbeiten zu erledigen. Bei den Praktiken des Bankensektors werden damit Symptome der Korruption, Ineffizienz und Bürokratie ersichtlich. Es ist schwer vorstellbar, dass dies der Bankensektor einer liberalen Wirtschaft sein sollte.

Auch derivative Produkte stehen am Pranger. Ihre wichtigste Funktion sollte die Absicherung sein. Der gesamte Nominalwert dieser Produkte entspricht aber mindestens dem Zehnfachen des Welt-BIP.Wir sind mit dem Paradoxon einer Gesellschaft konfrontiert, die den Unternehmergeist sowie die Risikoübernahme hochhält und die zugleich noch nie so viele finanzielle «Absicherungsprodukte » emittiert hat. In den meisten Fällen sind scheinbare Absicherungsprodukte in Wahrheit Wetten, z. B. mit Credit Default Swaps, auf den Bankrott eines Unternehmens oder eines Landes. Diese Wetten erzeugen Systemrisiken, die ein Grund für weitere Emissionen von strukturierten Produkten sind; eine pyromanische Feuerwehrstrategie auf Kosten der Realwirtschaft.

Im Zentrum der liberalen Argumentation steht der Markt, der durch den Preisbildungsmechanismus die Wirtschaft effizient organisieren soll. Nun ist dieser Mechanismus auf den Finanzmärkten aber defekt. Im Kontext der heutigen Kasino-Wirtschaft, in der mächtige Akteure die Preise beeinflussen und manipulieren können und regelmässig in Betrugsversuche involviert sind, scheint es kaum möglich, dass Marktpreise wirklich den fundamentalen Wert von Wertpapieren repräsentieren. Die Funktionsweise der Finanzsphäre hat sich vom Geist des Unternehmertums und von den Prinzipien des Liberalismus immer mehr entfremdet. In der heutigen Wirtschaft scheint die unsichtbare Hand von Adam Smith zunehmend unwirksam, weil bei Grossbanken und Hedge-Funds die Verfolgung individueller Interessen immer mehr dem Gemeinwohl schadet.

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